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Der 22. September wirft seine Schatten

Sofern Sie sich in braver Bürgerpflicht den Tort antun, den Märchenstunden der Parteispitzen zu lauschen (Ihr Hausarzt mag Ihnen derartiges als probates Schlafmittel empfohlen haben), werden Sie wohl mehr emotional als intellektuell bereichert (erste Schmerzensgeldansprüche gegen die singende Andrea Nahles dürften beim Generalbundesanwalt inzwischen vorliegen) und werden bemerkt haben: Der spannungsarme Bogen wird mühsam gehalten; die wichtigen Probleme bleiben ausgeklammert. Nur die Wahlprognostiker bequemen sich langsam dazu, die bislang zweckdienlich unterbewertete AfD zumindest gleichauf mit der FDP einzugestehen (unsere Prognosen kennen Sie ja bereits).

Zum Trost: In einer Woche haben wir es hinter uns, und ob es zu einer ‚großen Koalition‘, einer schwarz-gelben Koalition (die FDP wird heftig beatmet, Herr Brüderle mit Rebensaft-Infusionen versorgt) oder einer schwarz-blauen (AfD statt FDP) oder einer Dreier-Koalition CDU/CSU/AfD/FDP (das könnte eine lebhafte, aber recht kurze Legislaturperiode werden) kommt, ist letztlich egal. Sollte Grün-Rot obsiegen, wird die Zwangsentmündigung eben einfach schneller fortschreiten. Wir werden sehen. In jedem Falle werden nach dem 22. September auch i.S. Euro(Zonen)-Krise die Karten offen zu legen sein und das wahre Ausmaß des fortschreitenden Niedergangs nicht nur der „klassischen“ Problemländer, sondern auch Italiens und Frankreichs thematisiert werden.

Derweil baut sich in Syrien eine gefährliche politische Wetterfront auf, deren Auswirkungen auf den gesamten Nahen Osten völlig unabsehbar sind. 10% der etwa 23 Millionen Syrer sind derzeit auf der Flucht; das nach Israel und dem Libanon dichtest besiedelte Land im Nahen Osten hat seine Bevölkerung in den letzten 100 Jahren verfünfzehnfacht, wobei nur etwa die Hälfte des Landes überhaupt bewohnbar ist, und beheimatet neben allen drei monotheistischen Religionen etwa 100 religiöse und ethnische Splittergruppen, die sich in ihrer Verzweiflung geradezu unberechenbar diversifiziert und abhängig zeigen.

Ähnlich wie in Libyen nach dem Sturz Gaddafis bricht nun das gesamte „nationale“ Gefüge völlig auseinander – nicht zuletzt durch die exogenen Einflüsse sowohl Rußlands als auch der Vereinigten Staaten.

Wer wen mit Giftgas bekämpft, weiß – allen Vermutungen und Behauptungen zum Trotz – niemand mit Sicherheit, und da viele Familien sich niemals an die von Briten, Franzosen und Amerikanern gezogenen Grenzen gehalten haben, ist der Syrien-Konflikt längst zu einem multinationalen Krisenherd verschwommen.

H.-W. Graf