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Unendliche Geschichte der Gesundheitsreform-Reformen – TEIL 2

Ursachen, Nebenwirkungen und Therapien

Vortrag von Carlos A. Gebauer[1]


B.III. Die rechtlichen Gefahren aus dieser Komplexität

Was, mag manch einer fragen, kann falsch sein an dem Versuch, der Barmherzigkeit Verläßlichkeit beizugesellen, auch wenn das organisatorisch vielleicht etwas anspruchsvoller ist? Ist nicht legitim, individuelle Tauschverhältnisse zu entpersönlichen und sie in Abstraktion zu vergesellschaften, wenn dadurch medizinische Hilfe für jedermann – ohne Ansehung seiner Person – rechtlich verbindlich gemacht werden kann?

Bedeutet diese abweichende, neue Organisationsform ein und desselben Lebensverhältnisses nicht nur, daß man sich den immer gleichen Aufgaben und Herausforderungen eines solchen Systems statt von der einen nun von der anderen Seite nähert? Was macht denn den Unterschied, ob man die Gesundheitsversorgung einer Bevölkerung statt vom Individuum her von der Allgemeinheit her denkt und strukturiert?

Der Unterschied ist, daß das Allgemeinwohl Vorrang genießt vor dem Individualwohl. Mit anderen Worten: Individuelles Wohlergehen ist nun immer nur noch dort möglich, wo zuvor allgemeines Wohl erreicht war. Die Vorstellung, daß allgemeines Wohl gleichsam automatisch dann und dort erwächst, wo es den Individuen wohlergeht, ist damit obsolet. Damit wäre individuelles Wohl zwar noch nicht per se verunmöglicht. Eine Schwierigkeit bleibt aber dennoch. Und genau dieser Schwierigkeit läßt sich nicht ausweichen: Jeder einzelne kann zwar für sich selbst noch – halbwegs verläßlich – erkennen, was für ihn gut ist. Er weiß aber nie, was für die Allgemeinheit gut ist[2]. Er kann die Allgemeinheit zwangsläufig auch nicht danach fragen. Denn – wie sollte sie es ihm sagen?

Bei meinen Versuchen, die rechtlichen Gefahren aus dieser Lage auch für diejenigen anschaulich und plastisch zu machen, die weder mit den Komplexitäten des Gesundheitswesens und Krankenhausgeschäftes, noch auch mit rechtlichen Feinheiten des Sozialversicherungsrechtes und seinen ökonomischen Besonderheiten intim vertraut sind, habe ich in jüngster Zeit zunehmend auf eine Art vereinfachter Parabel zurückgegriffen, nämlich auf das ‚Edeka-Gleichnis’. Mit dieser Geschichte läßt sich – glaube ich – der geradezu tragische Mechanismus erklären, der immer dann zwangsläufig einsetzt, wenn die Weichen eines Systems im Anfang (bewußt oder unbewußt) in eine bestimmte Richtung gestellt werden. Das Gleichnis lautet in etwa so:

[….]


[1] Der Vortrag wurde gehalten am 20. Oktober 2006 anläßlich der Jahrestagung 2006 des Krankenhauszweckverbandes Köln, Bonn und Umgebung e.V. in der WestLB Akademie auf Schloß Krickenbeck, Nettetal.

[2] Das übrigens ist – nebenbei – Nietzsches Kritik an Kants „kategorischem Imperativ“: Wie soll der Einzelne wissen, was für alle gut ist?