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Madame Tussaud und die deutsche Geschichte

Am ersten Wochenende des Juli 2008 war es soweit: Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett wurde in Berlin eröffnet.

So gelungen und lebensecht in Berlin nunmehr Angelina Jolie und Brad Pitt, Madonna und die tonangebenden Politiker des ausgehenden 20. Jahrhunderts wie Bush, Kohl und Schmidt zu bewundern sind, so erregt eine Figur die Gemüter vieler: In sich zusammengesunken und mit restlos verlorenem Blick wird Adolf Hitler in seinem Führerbunker dargestellt.

Die Motivation der Initiatoren war es, diese Figur der deutschen Zeitgeschichte ebenso wenig auszulassen wie die tragischen Helden des Widerstands, Sophie und Hans Scholl. Im Gegensatz zu allen anderen Figuren darf jedoch der dargestellte Hitler weder berührt noch fotografiert werden; damit soll verhindert werden, daß Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett zu einer Art „heimlicher Wallfahrtsstätte“ für Neonazis und Ewig-Braune wird.

Nun, bereits der zweite eingelassene Besucher – die Ausstellung war gerade einmal sieben Minuten eröffnet – ein arbeitsloser Hartz-IV-Empfänger, der seinen Job als Polizist aufgab, um „die Seiten zu wechseln“ (wörtliches Zitat), fühlte sich dazu berufen, die Hitler-Figur zu köpfen. Angeblich ging es um eine Wette – über den dabei im Spiel stehenden Promille-Pegel darf spekuliert werden. Eines ist dem hirnlosen Zeitgenossen jedoch gewiß: Die Medien aller Couleur stürzten sich sofort auf ihn, und des Beifallsturms aller Autonomer und linker „Bessermenschen“ durfte er sicher sein. Seine Beschränktheit offenbarte der 41-Jährige insbesondere damit, daß er seine Tat mit den Worten „Nie wieder Krieg!“ begleitete; täglich sterben etwa 25.000 Kinder unter zwölf Jahren an Hunger, Unterernährung und Dehydrierung, und etwa 15.000 Menschen verlieren in (Bürger-)Kriegen und ideologischen Auseinandersetzungen ihr Leben.

Die innerhalb eines Tages entflammte Debatte verdeutlicht zum einen die explosive Emotionalität, die auch heute noch, mehr als sechs Jahrzehnte nach dem Untergang des „tausendjährigen Reiches“ (das schicksalshafterweise immerhin zwölf Jahre andauerte) besteht. Zu viele der von dieser Ära aktiv und passiv Betroffenen leben noch, und gerade die Deutschen haben mit ihrer „dunklen Vergangenheit“ erhebliche Probleme – wohl nicht zuletzt deshalb, weil sie tagtäglich, bisweilen nur latent-diskret, bisweilen jedoch recht massiv, darauf gestoßen werden.

Verständlich, daß sich die „Gesellschaft der Gedenkstätte des deutschen Widerstandes“ sogleich zu Wort meldete und ob der Aufnahme Hitlers als Wachsfigur von einer „geschmacklosen Schamlosigkeit“ sprach. Nun, vielleicht rührt die Problematik der Deutschen, mit ihrer braun-schwarzen Vergangenheit nüchtern und emotionsarm umzugehen, genau daher, daß eben jener Hitler beileibe zu wenig Widerstand erfuhr und Abermillionen von Anhängern seinen unheilvollen Aufstieg als jubelnder Begleitchor überhaupt erst möglich machten.

Nun, das war am 9. November 1989 auch nicht anders, als sich nach der Öffnung der Mauer Millionen von Menschen als Widerständler outeten; nur allzu oft wurde mir in den Jahren danach, als ich als Berater eines großen VEB in Ostberlin tätig war, immer wieder erklärt: „Offener Widerstand wäre zwecklos/gefährlich gewesen“ oder „Wir Widerständler hatten keine Chance gegen die dumpfe, dröge Masse“.

Ähnliches hörte ich in den vergangenen Jahren von meinen amerikanischen Freunden, die sich zumeist als Gegner von George W. Bush bezeichneten, der die USA wirtschaftlich, militärisch, soziologisch in ein Desaster nach dem anderen führte und das Image vom „ugly American“ nachhaltiger nährte, als wohl alle Präsidenten der USA vor ihm. Und auch in Rußland, wo ich seit 1993 regelmäßig arbeite, erhielt ich auf die Frage, wie ein wahnsinniger Säufer vom Schlage Jelzins dieses größte Land der Erde so hemmungslos usurpieren und in die wirtschaftliche und sozialpolitische Katastrophe führen konnte, stets die gleichen Antworten.

Ich bin inzwischen der festen Überzeugung, daß  […]