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Wir haben ein Erkenntnisproblem – Interview

Wir haben ein Erkenntnisproblem, nicht nur ein Umsetzungsproblem

Interview mit Prof. Norbert Walter, Deutsche Bank Research

Von Christian Kutzner, Berlin-Institut

Prof. Dr. rer. pol. Norbert Walter, geboren am 23.09.1944, ist seit 1992 Geschäftsführer von Deutsche Bank Research und Chefvolkswirt der Deutsche Bank Gruppe. Die Deutsche Bank Research ist ein Forschungsinstitut mit Sitz in Frankfurt, das die Entwicklungen in Gesellschaft, Wirtschaft und Finanzmärkten untersucht.

Die Gesellschaft altert. Das Verhältnis von Beitragszahlern und Beitragsempfängern wird sich in Deutschland dramatisch verschieben. Kann das heutige Umlagesystem der Sozialkassen in Zukunft noch funktionieren?

Nein. Das Umlageverfahren sorgt zu allem Überfluß dafür, daß die Anreize, die man ansonsten in einer eher marktwirtschaftlich organisierten und auf Selbstverantwortung aufbauenden Gesellschaft mobilisieren könnte, nicht mobilisiert werden. Ich votiere für einen Umstieg in Richtung Kapitaldeckungsverfahren. Gleichzeitig plädiere ich dafür, daß man als Älterer teilzeitbeschäftigt bleibt und daß man als Junger möglichst früh ins Erwerbsleben eintritt, damit man auch mehr Geld für den zeitgleichen Konsum hat.

Sind die bisher vom Staat eingeleiteten Maßnahmen, beispielsweise die Ausweitung der Erwerbstätigkeit bis zum Alter von 67 Jahren, ausreichend?

Ab 2029! Das ist völlig unzureichend. Selbst wenn unsere heutigen Prognosen für die steigende Lebenserwartung zutreffend wären, unterschätzen wir die Wirkung der Alterung auf Produktivitätsfortschritte völlig. Ich erwarte außerdem, daß die Lebenserwartung noch stärker steigen wird – auch wegen der Ergebnisse von Biotechnologie und Genomforschung.

Weiß die Bevölkerung um diese Entwicklung?

Wir haben ein Erkenntnisproblem, nicht nur ein Umsetzungsproblem! Die Bevölkerung ist nicht genügend vorbereitet, und sie ist mit Sicherheit nicht bereit, das, was möglicherweise bei einer größeren Gruppe bereits als Erkenntnis vorliegt, in Handeln umzusetzen.

Sorgen die Deutschen in ausreichendem Maße für ihre private Altersvorsorge vor?

Nein, obwohl in keinem Feld die Debatte auch nur annähernd so weit ist, wie im Feld der Altersvorsorge. Die ökonomische Bedeutung eines anderen Bereichs ist mindestens so groß: die der Gesundheit. Dort sind die Erkenntnisdefizite um Meilen größer, und dort sind die politischen Entscheidungen weit hinter denen, die man bei der Altersversorgung bereits getroffen hat. Was wir bei der Pflegeversicherung jetzt gemacht haben, ist die Einleitung der nächsten Katastrophe.

Die Menschen müssen mehr für Krankheitsfälle und den Ruhestand zurücklegen. Heißt das, sie werden mehr sparen?

Die bisherige Politik bedeutet eine Nicht-Nutzung aller Anreize und die Nutzung aller Negativ-Anreize, denn wir sorgen dafür, daß die Arbeitskosten erhöht werden, wenn wir gemäß derzeitigem System größere Teile unserer Einkommen für Gesundheit und für Krankenversicherung ausgeben. Das geht nicht. Wir sollten stattdessen mehr arbeiten und die erarbeiteten und ersparten Mittel intelligenter verwenden als bisher. Wir müssen in Zukunft auch über internationale Anlagen nachdenken. Wenn Sie beispielsweise in Immobilien eines „sterbenden“ Volkes investieren, dann haben Sie mit Zitronen gehandelt.

Wie sicher ist eine kapitalgedeckte Anlage? Wie sicher sind Immobilien für diese Zwecke?

[….]