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Die Spiel-Schule

Anmerkung der Redaktion:

Eines der archaischsten Vehikel des deutschen Bildungswesens ist das staatliche, „hoheitliche“ Schulsystem. Nahezu alle Versuche, Bildung als ein am Individuum orientiertes Erfassen der Welt zu begreifen, schlugen bislang in diesem Lande fehl, und selbst die zwischenzeitlich etablierten Waldorf- und Steiner-Schulen stoßen immer wieder auf Schwierigkeiten. Da lohnt es sich, das Konzept der Sudbury-Schulen näher kennenzulernen:


Die erste Sudbury Schule in Deutschland wird im August in Hamburg eröffnet.

Der amerikanische Physiker und Sudbury-Pionier Daniel Greenberg erläutert die Kernideen des Schulmodells.

Anfangs hatte Spielen als Konzept in der Bildungswelt einen schlechten Ruf. Aus der Sicht von Erziehern gehörte Spielen daher lange Zeit einfach nicht zur Bildung. Das Problem für Erzieher war aber, daß Kinder gern spielen. Tatsächlich spielen Leute jeden Alters gern. Als Sudbury Valley öffnete, wußten wir natürlich – wie jeder andere auch – daß Kinder viel spielen, wenn man ihnen erlaubt, frei zu sein, d.h. wenn man ihnen nicht von außen einen Plan überstülpt. Wir sagten: Es ist okay, daß sie spielen; nicht weil Lernen Spaß macht, sondern weil Spielen an sich bildend ist. Spielen mag Erholung und Spaß sein, aber Spielen erfüllt „legitime“ Bildungsziele, z.B. die Entwicklung bestimmter motorischer Fertigkeiten, sozialer Fähigkeiten und anderer nützlicher Talente.

Spielen ist immer eng mit dem Konzept der Neugierde verbunden, auf das wir in Sudbury Valley von Anfang an sehr geachtet haben. Meine Behauptung ist: Das Überleben und die Weiterentwicklung der menschlichen Spezies hängen ganz wesentlich vom Spielen ab. Mathematiker verbringen ihr ganzes Leben mit Spielen. Die Leute, die den Computer erfanden, spielten mit unbeschränkten Innovationen, und sie hatten keine Idee, wohin diese sie führen würden.

Aristoteles verstand, wie wichtig die unbeschränkte Beschäftigung für das menschliche Vorankommen ist. Er nannte es „Muße“, aber eigentlich meinte er die Fähigkeit, Beschäftigungen nachzugehen, bei denen es keine festen Vorgaben gab. Die Griechen liebten ihre Muße und waren fest davon überzeugt, daß Muße Kultur hervorbringt. Der Punkt war der, daß großes Denken von unstrukturiertem, offenem Spielen kommt. Die Griechen schämten sich dessen nicht. Die spätere Verunglimpfung des Spielens in der Menschheitsgeschichte ist ein Teil der massiven Kampagne gegen Muße. Man soll arbeiten. Man soll seine „Pflicht“ erfüllen.

Im postindustriellen Zeitalter, in dem wir uns befinden, wird aber nur ein kleiner Bruchteil der Arbeit, die man tut, benötigt, um grundlegende Bedürfnisse nach Essen, Kleidung und Unterkunft zu befriedigen. Das Zeitalter der Muße ist für jedermann greifbar. Kinder, die heute aufwachsen, verstehen intuitiv, wenn nicht gar kognitiv, daß die Zukunft der Muße gehört, und daß die Herausforderung des Erwachsenendaseins in der Zukunft darin besteht, seine Muße in vollem Maße seiner Fähigkeiten zu nutzen, fähig zu sein, jedes Bißchen seines Könnens, seines innovativen Potentials und seiner Kreativität zu nutzen. Spielen ist kein Randthema. Es ist der Schlüssel zur Zukunft.

Wer Gespräche beherrscht, ist bestens ausgestattet, um in einer sich schnell verändernden Welt zurechtzukommen. Und wer das nicht beherrscht, dem fehlt die wirksamste Methode zu lernen. Die Akademien der antiken Griechen waren Orte, an denen die Leute herumliefen und redeten. Das bedeutendste Physikinstitut des 20. Jahrhunderts war das Niels-Bohr-Institut in Dänemark. Bohr ist der Mann, der die Quantentheorie des Atoms entwickelte, den Grundstein der modernen Physik. Er scharte die größten Physiker seiner Zeit um sich – und hing mit ihnen herum. Das war es, was sie taten: Sie hingen herum. Sie kamen in sein Institut, um ein paar Monate herumzuhängen. Sie redeten über Physik, über Theorien, über Gott, über Philosophie. Um herauszufinden, was in den Köpfen anderer Menschen vor sich geht: Vor allem deshalb ist das Gespräch so wichtig.

Es ist ein merkwürdiges Paradox: Obwohl die Leute betonen, wie wichtig Kommunikation ist, schrecken sie in der Schule davor zurück. An traditionellen Schulen ist sie strengstens verboten. Daß die Kinder den ganzen Tag den Mund aufmachen, ist das letzte, was man dort will. In den vergangenen 30 Jahren haben wir an Sudbury Valley gelernt, daß freie Kommunikation eine der größten Stärken der Schule ist.

Was einem an Sudbury Valley auffällt, ist die Abwesenheit vorgegebener Zeiten. Wir haben keine Klingeln. Wir verpassen den Schülern keinen festen Zeitrahmen. An unserer Schule gilt Zeit nicht als Angelegenheit der Gemeinschaft, sondern ist Sache des Einzelnen. Jeder Schüler unserer Schule lebt nach seiner inneren Uhr.

Heute werden viele Eltern ausgesprochen nervös, wenn sie hören, ihr Kind müsse bis zu dem und dem Alter eine zweite Sprache erlernt haben, sonst sei diese Fähigkeit verschwunden; habe es bis zu diesem oder jenem Alter keine mathematischen Kenntnisse, werde es niemals gut in Mathematik sein. Solche übergestülpten Zielvorgaben laufen der natürlichen inneren Entwicklung des jeweiligen Kindes zuwider. Mancher ist mit 16 für einen Schulabschluß bereit, andere sind erst mit 20 oder 21 soweit. Soll der Teil der Natur sich entfalten, darf es keine Tyrannei der Zeitvorgaben geben.

Während unserer Gründungsphase dachten wir, man würde in Scharen unsere Schule stürmen. Wir wurden sehr schnell eines besseren belehrt, durchliefen stattdessen einen langen Kampf ums Überleben, ums Wachsen und darum, Akzeptanz zu finden. Gut zwei Jahrzehnte dauerte es, bis wir in der Bildungswelt anerkannt und als eine legitime Bildungseinrichtung akzeptiert wurden. Wir verstanden, daß sich ein Kulturwandel nicht von heute auf morgen vollzieht. Urbanisierung und Industrialisierung haben Schäden angerichtet, die dazu führen, daß nicht jeder in der Lage ist, von Sudbury Valley zu profitieren. Wir sahen immer wieder Schüler an unsere Schule kommen, die vergessen hatten, wie man spielt. Es ist wirklich erschütternd. Lernen wir sie näher kennen, dann sehen wir, daß sie zuhause oder anderswo Spielen als etwas Gelenktes erfahren haben – das genaue Gegenteil dessen, was Spielen eigentlich bedeutet. Unter Spielen verstehen sie das, was nach Gewinn strebende und pädagogische Gruppen daraus gemacht haben: eine klar pädagogisch ausgerichtete Veranstaltung. Bei den älteren Kindern ist es noch trauriger. Dabei kommt es darauf an, sich die Fähigkeit zu spielen sein ganzes Leben hindurch zu bewahren. Es verlernt zu haben ist eine furchtbare Behinderung. Wer vergessen hat, wie man spielt, kann nicht mal ansatzweise nachvollziehen, wie so etwas wie Sudbury Valley eine Schule sein kann.

Wir haben Leute aus jeder Einkommensstufe. Und aus jeder Religion. Und mit jedem kulturellen Hintergrund. Sudbury Valley ist keine Schulform für besondere Kinder. Sondern wirklich nur eine, wo Schüler so, wie sie von Natur aus sind, erfolgreich sein können.

Der Autor, Jahrgang 1934, lehrte an der Columbia-Universität in New York Physik und Wissenschaftsgeschichte. Der Text entstammt seinem Buch „Ein klarer Blick“ (tologo Verlag, Leipzig 2006). Greenberg war Gründer der ersten Sudbury Valley School 1968 im US-Bundesstaat Massachussetts. Bislang gibt es weltweit über 30 Schulen, die sich am Sudbury-Modell orientieren. In Hamburg hat eine Initiativgruppe soeben grünes Licht für die erste Sudbury Schule in Deutschland bekommen. Weitere Sudbury-Intiativen warten in Berlin, Dresden, Düsseldorf, Leipzig, Lüneburg und München auf Genehmigung durch die Schulämter.

Daniel Greenberg


Erlauben Sie uns in diesem Zusammenhang auch, Sie auf das alternative Bildungskonzept hinzuweisen: www.d-perspektive.de/Konzepte